942 mal zur Sonne, 2 Klientin, einmal Corona und eine nicht plötzliche Erkenntnis
Es reicht … Nicht. Es reicht nie.
Wann haben wir genug geleistet?
Man darf keine Lieblingsklienten haben. Ich habe eine. Hatte. Sie kam unglücklich, denn sie fühlte sich wertlos, weil sie arbeitslos war – seit 3 Monaten. Seit ihrem Abitur hat sie gearbeitet. Nach der erfolgreich abgeschlossenen Ausbildung hat sie in verschieden Ländern gearbeitet. Bei ihrer letzten Arbeitsstelle hat sie 12 Jahre lang schwerbehinderte Menschen betreut. Viel verdient hat sie nicht. Sie hat diese Arbeit gerne gemacht. Ihre Arbeitszeugnisse: Exzellent. Dann konnte sie nicht mehr. Burnout heißt das heute. Ein halbes Jahr hat sie Pause gemacht. Nun fühlt sie sich wertlos, weil sie der Gesellschaft auf der Tasche liegt und nichts leistet. Die Schreiben vom Jobcenter bestätigen sie in dieser Meinung. Die Frage, ob sie die Menschen, die sie betreut hat, als wertlos empfindet, weil sie der Gesellschaft auf der Tasche liegen, löste tiefe Empörung bei ihr aus.
Meiner Meinung nach sollte sie sofort in güldenen Ruhestand geschickt werden, mit hübschem, feinem Häuschen mit Blumen davor, so eins aus Bullerbü, und ansonsten machen dürfen, was sie möchte, statt, wie gefordert, schnellst möglich dem ersten Markt wieder zur Verfügung zu stehen. Die momentane Wirklichkeit sieht einen eher düsteren Ruhestand für sie vor. Pech – sie hätte ja auch Managerin in einem Konzern, der unnütze Konsumgüter herstellt, werden können.
Mittlerweile hat sie den Burnout in Ruhe hinter sich gelassen und eine neue, sie erfüllende, schlecht bezahlte, lebenssystemrelevante* Arbeit gefunden.
Auch im System lebt die erfolgreiche Mehrfach-Firmengründerin. Alles gelungen, auch die Kinder sind toll. Ironiefrei. Ein schönes, wildes, gutes Leben.
Grund des Coachings war ihr Wunsch einer Sortierung ihres Lebens und Arbeit, um zu schauen, was sie mit in die nächste Firmengründung nimmt. Und … na klar… es reicht alles nicht und war auch alles nicht so dolle – die Auszeichnungen nicht, nicht die vier Sprachen und die internationale Firma. War nicht mal Oxford, wo sie unterrichtet hat. Wir lachen sehr viel in diesem Coaching.
Der supertolle Ferdinand von Schirach findet sich auch nicht so dolle und sagt, die Welt ist immer im Mangel. So wie ich ihn verstanden habe, ist der gefühlte Mangel die Wurzel allen Schaffens. Ich finde Herr Schirach hat immer Recht und diesmal glaube ich ihm nicht (auch wenn er doch recht haben sollte).
Ich glaube es gibt auch die Kraft, die aus der Fülle heraus schafft.
Auf youtube habe ich Lena gefunden. Lena unterrichtet Yoga. Ihre 12 Runden Sonnengrüße mit Affirmation zu jeder Haltung sind meine Morgenübung, auch weil Lena so wunderschön „Hey, ich bin Lena“ sagt. Es ist die erste Morgenroutine, die ich vermisse, wenn ich sie auslasse. Eine Übung ist die Vorbeuge, bei der man sagt: „Ich verneige mich vor allen Lebewesen“ Das finde ich besonders schön: also auch vor den Würmern. Ich stelle mir dann gerne vor, dass alle Menschen sich vor allen Würmern verbeugen.
Ich war richtig gut bei den 12 Sonnengrüßen – ich floss nur so dahin, alle Übung auf erhöhtem Level. Ich war so gut, dass ich Lena schreiben wollte, ob sie nicht 24 oder schnellere oder krasse Sonnengrüße hochladen könnte. Dann hatte ich Corona und konnte gar keine Übung mehr.
Mein Kraftniveau oberhalb der Normalleistung (Gehen, Essen, Atmen) war auf 10 % gesunken. Nach fast 3 Monaten kann ich wieder einen halben Liegestütz. Auf Knien. Jede Übung schmerzt. Vor 2 Wochen in der dritten Sonnengrußrunde, mitten als ich bei den Würmern ankam, dachte ich plötzlich: „Aaahhh …alle Lebewesen…ALLE: da bin ja auch ich enthalten. Na sowas. Da verbeuge ich mich gleich mal vor mir selbst: Gar nicht so schlecht – es reicht ja.
Ich wünsche allen Lebewesen sich wenigstens einmal in ihrem Leben, vor sich zu verneigen und zu wissen: Es reicht, es ist gut.
Jeder leistet zu jeder Zeit sein Maximum. Immer.
Frohe Weihnachten Ihr Würmer.
*aus Harald Welzer Buch „Alles könnte Anders sein“
Lena:
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