Das rote Sofa oder das Glück braucht einen besonderen Anlass
Im letzten Jahrhundert, als ich während meines Grafik-Design-Studiums lernte, mit Zeichenfeder und Letraset Buchstaben auf Papyrus zu bringen, verband mich eine wundervolle Freundschaft mit einem jungen Mann, die mich heute noch erfreut und manchmal auflachen lässt, wenn ich an die Dinge denke, die wir zusammen erlebt haben. Zum Beispiel die Reise zu seinen Verwanden zum 80. Geburtstag seiner Großmutter. Diese wohnten weit weg, nämlich in China. Wir brauchten von Hamburg aus ca. 3 Stunden dorthin. Dann standen wir vor einem mittelhohen Hochhaus, stiegen in den Fahrstuhl, der uns 70-iger-Jahre-mäßig in den 5. Stock ruckelte und traten dort über die Wohnungsgrenze einer 3 Zimmerwohnung ins freie Taiwan. Die Verwanden meines Freundes waren allesamt Menschen aus diesem schönen Land, wie auch mein Freund selbst. Ich hatte vorher schon die Wohnungen von türkischen, griechischen und anders kulturellen Eltern besucht, die auf einem ganz anderen Planeten lebten. Doch nie zuvor war der Schritt in eine andere Kultur so radikal gewesen wie hier. Zur musikalischen Untermalung des Festes tönte aus dem größten Röhrenfernseher, den ich bis dahin gesehen hatte, in absoluter Lautstärke eine Pekingoper, und die gefühlt zwei Milliarden Gäste unterhielten sich bestens.Alle standen, keiner saß. Und das war wunderlich, thronte doch über allem eine gigantische rotseidene Couch, bestickt mit allerhand goldenen Verzierungen. Goldene Kordeln, Troddeln und Quasten ließen es aussehen wie die schlafende Frau Mahlzahn nach ihrer Verwandlung – ein Goldener Drache der Weisheit. Es war einladend majestätisch, wie eine gütige Königsmutter… …. und es war mit einer Plastikhülle überzogen. „Lieber Freund“, sagte ich zu meinem Freund, „wieso ist da ein Folie über dem Sofa?“ „Oh liebe Freundin, die Couch ist das Prunkstück meiner Großeltern; die Plastikplane wird nur bei ganz besonderen Anlässen abgenommen, für die die Couch geschont wird.“ Andächtig schauten wir auf das warme Leuchten des Sofas, auf dem niemand saß. Eine Tante 72. Grades im Seidenkimono und mit 50 Schmetterlingen im Haar reichte uns einen Teller mit 1000 Köstlichkeiten und während ich mein zartes Gebäckchen genoss, das nach Nachtigallzungen in Honigkristallen mit in Morgentau gewälzter Bergminze schmeckte, kam mir ein Gedanke: „Lieber Freund, heute ist der 80. Geburtstag deiner werten Großmutter, ist das kein besonderer Anlass?“ „Nein.“ „Und das Neujahrsfest?“ „Nein.“ „Und die Hochzeit deines Bruders?“ „Nein.“ „Wurde die Folie überhaupt schon einmal entfernt?“ „Nein, noch nie. Ich war fünf, als die Couch geliefert wurde, seitdem ist die Folie an ihrem Platz, meine Großeltern sitzen auf den kleinen Schemeln davor und schonen die Couch für einen besonderen Anlass.“ „Lieber Freund, deine Großmutter ist 80 und dein Großvater 92, auf welchen Anlass warten sie?“ Mein guter Freund schob sich zur Antwort eine gebackene Lotusblüte in den Mund, wischte sich die Finger an seinem strahlend weißen Hemd ab und zuckte mit den Achseln. Es war ein tolles Fest. Während der folgenden Jahre dachte ich immer wieder an die Couch und die netten alten Herrschaften auf ihren kleinen Schemeln. Die Plastikfolie ist im Leben der meisten von uns in unterschiedlichster Form zu finden. Sie ist das, was uns von unserem Glücklichsein trennt: Wir müssen noch diese Schuhe für die Party haben, jenes Auto mit solchem Motor, noch diese Reise machen, jenen Berg erklimmen und unbedingt fünf Kilo abnehmen. Wir brauchen noch diesen Master, besseren Sex, überhaupt Sex, eine andere Wohnung und unsere Freiheit. Dann müssen wir einen passenderen Partner finden, wir müssen uns ändern oder der Partner soll sich ändern, oder wieder so werden wie er mal war, das Kind zeugen, ohne welches wir nicht komplett sind und dann noch das zweite, und bitte – einen anderen Tisch im Restaurant haben. Ein Ziel jagt das nächste. Erst wenn wir das alles haben, dann tanzen wir vor Glück – aber bitte zu anderer Musik, doch nicht dieser! Ach je, schon wieder nicht vollkommen richtig. Lauter Plastikfolien, die uns von dem einen trennen, dem Jetzt und Hier – und da wohnt ja nun mal das Glück. Solange die Dinge ‚total‘, ‚vollkommen‘, ‚komplett‘ oder ‚ganz besonders‘ sein müssen, oder wenigstens anders, jeder Moment das ‚absolute Highlight‘, ‚episch‘ oder mindestens ‚magisch‘ zu sein hat, und vorher noch irgendetwas erledigt werden muss, wird’s eng fürs Glück! Ist ‚total glücklich‘ wirklich besser als ‚glücklich‘? Ich bin nicht ‚total‘ oder ‚epochal‘, oder etwas ‚ganz Besonderes‘, oder ‚komplett‘ – dafür ich verliere viel zu oft meine Schlüssel. Bücher lese ich selten ganz durch und ich hab noch nicht mal ein Auto. Und? Mit all diesen Fehlern darf ich dann nicht glücklich sein? Einfach mal der Glücksoptimierungspolizei die Tür vor der Nase zuhauen! Wir müssen nicht heil sein, um ganz zu sein. Es ist immer alles da. Die Erwartung: Dass wenn es so wäre, wie ich glaube, dass es sein müsste, ich dann glücklich sein würde, lässt mich nicht im Jetzt sein. Wir wissen nicht wie es wäre, wenn es wäre, wie wir glauben, dass es sein müsste. Wahrscheinlich wäre dann die Farbe irgendwie falsch… Ich weiß nicht ob die Großeltern meines Freundes jemals auf ihrer Couch saßen. Mein Ende dieser Geschichte ist: An einem heißen Sommertag tragen Möbelpacker die Möbel aus der kleinen Wohnung im 5. Stock auf die Straße und werfen diese nach und nach in den riesigen Möbelpresse-Wagen. Unsere schöne rotgoldene Couch steht auf dem Gehweg in der prallen Mittagssonne und leuchtet durch die inzwischen gelblich gewordene Plastikfolie. Einer der Arbeiter reißt die Folie herunter, um sich die Couch genauer anzusehen, vielleicht passt sie ja in seinen Hobbyraum, nein – zu groß. Die Männer beschließen, das riesige Ding erstmal stehen zu lassen und gehen in die Mittagspause. Ein paar Kinder kommen die Straße entlang. Beeindruckt vom dem Gold und Rot und den Drachenmustern auf der Couch, hüpfen sie sofort auf diese und räkeln sich mit ihrem Eis in der Hand genüsslich darauf herum. Nachdem das Eis gegessen ist, entbrennt zwischen den Kindern ein wilder Kampf um irgendetwas. Es ist köstlich, von der Lehne auf die weichen Polster zu plumpsen. Und hopsen kann man noch besser. Es ist ein Gejohle und Lachen, bis die Arbeiter zurück kommen. Sie vertreiben die Kinder, die mittlerweile erschöpft vom Kampf bäuchlings über den Lehnen hängen. Die Männer setzten sich selbst nieder, für ein gemütliches Zigarettchen. Einer von ihnen holt, weil es sich auf der Couch so gut sitzen lässt, Kaffee und Kuchen für alle. Die Pause zieht sich noch etwas in die Länge, dann machen sie sich gemächlich wieder an die Arbeit. Und die Couch? Die freut sich, denn sie durfte endlich das sein, für wofür sie auf die Welt kam: Eine Couch, auf der man es sich gut gehen lässt. Oder so: Jeden Sonntag, wenn die Familie nach dem gemeinsamen traditionellen Familien-Abendessen wieder gegangen war, nahmen die freundlichen Großeltern meines Freundes die Plastikfolie ab, zogen sich nackedei aus und hüpften fröhlich auf ihrer Couch herum. Und als sie genug gehüpft hatten, packen sie die Couch wieder ein und setzten sich glücklich auf ihre kleinen Schemelchen. Wer weiß…